Exklusiv-Interview

Warum Israel an Corona verzweifelt

Zweiter Lockdown in Israel: Religiöse Feste und große Familienfeiern sind für den Filmemacher Sascha Engel mit die Hauptgründe für den Anstieg der Infektionszahlen.

Sascha Engel im Interview

Sascha Engel lebt seit 2005 in Tel Aviv in Israel. Der Tänzer und Choreograph arbeitet dort am Theater, aber seit vielen Jahren auch als Filmemacher. In seinem Filmstudio „Kino Kitchen“ produziert er Video-Clips, Dokumentarfilme und alles rund um Multi-Media für Theater und Museen. Er stellte sich unseren Fragen zum zweiten Lockdown in Israel.

GENERATION Homeoffice: Seit Freitag ist in Israel der zweite landesweite Pandemie-Lockdown in Kraft. Was genau bedeutet das für Dich persönlich?

Sascha Engel: Für freischaffende Filmemacher und Theaterschaffende ein erneuter Supergau. Die Unterstützung der Kulturschaffenden war schon vor dem zweiten „Seger“ (Lockdown auf Hebräisch) katastrophal: keine oder minimale staatliche Unterstützung.
Alle Theater waren sowieso dicht, aber Film-Sets und einige Produktionen kamen langsam wieder aus ihren Schneckenhäusern. Der erneute Lockdown ist da ein unglaublicher Schlag ins Gesicht. Viele Menschen hier stehen kurz vor dem finanziellen Nichts. Der erneute Stillstand wird für viele das Aus bedeuten.

Wie kam es zu dem erneuten starken Anstieg der Infektionszahlen? War Israel auf einem zu schnellen Weg zurück „zur Normalität“?

Ganz genau wird man es nie sagen können. Sicher ist, dass die religiösen Kommunen der ultraorthodoxen Juden und ein Großteil der arabischen Communities einen nicht unbeträchtlichen Beitrag an den Zahlen leisten. Die Ersteren lassen sich trotz der Verbote nicht von Treffen in Synagogen zum gemeinsamen Beten, zu Feiertagen und Familienfesten abhalten. Auch bei den Arabern liegt der Grund häufig im religiösen Bereich und im Veranstalten von großen Hochzeiten und Familienfesten. Der israelische Ministerpräsident Netanyahu hat sich in den letzten Jahren, in seinem Versuch an der Macht zu bleiben, auf die Koalition mit den Ultraorthodoxen, die 10% der israelischen Bevölkerung ausmachen, eingelassen. Dies hat ihn dieser Gruppe gegenüber erpressbar gemacht: Obwohl sich die Charedim Gemeinden permanent über Verbote und Beschränkungen hinwegsetzten, traute sich Netanyahu nicht, dies adäquat zu ahnden, da er Angst hat, dann vor dem politischen Aus zu stehen.
In Israel, sowohl bei Juden als auch bei Arabern, haben Familie und traditionelle Festivitäten einen viel höheren Stellenwert als in Deutschland. Auch sind die Feste viel größer: Während in Deutschland eine Hochzeit mit 150 Gästen eine große Veranstaltung ist, sieht man das hier als Mini-Hochzeit an. Eine mittlere bis große Hochzeit heißt in Israel 600 Personen oder mehr.

Gibt es noch weitere Gründe?

Ein weiterer Grund ist sicherlich auch das Klima und die Mentalität: Israelis sind warmherzige Menschen. Man umarmt sich zu Begrüßung und ist generell viel körperlicher im sozialen Umgang als der Nordeuropäer. Dann kommt noch das Klima hinzu: In den letzten Wochen war es unglaublich heiß und feucht, was das Maskentragen noch erschwerte.

Generell denke ich auch, dass Israelis weniger Obrigkeitstreu sind und im Gegensatz zur Disziplin der Deutschen eher chaotisch unterwegs sind. Die unter der Nase sitzende Maske gehört hier zum Alltagsbild. Und in Israel sind neben den religiösen Stätten auch die Schulen und Kindergärten große Brandherde, die für den rasanten Anstieg der Zahlen mitverantwortlich sind.

Hast Du den ersten Lockdown auch schon miterlebt? Wenn ja, wie einschneidend ist so ein echter Lockdown?

Ja, ich war auch im ersten Lockdown in Tel Aviv. Für mich persönlich war es sehr extrem, da in dieser Zeit sowohl meine älteste Schwester, als auch meine Stiefmutter verstarben (nicht im Zusammenhang mit Corona) und ich an keiner der beiden Beerdigungen teilnehmen konnte. Es war aber auch unabhängig von diesen persönlichen Schicksalsschlägen heftig: Man durfte sich nicht weiter als 100 Meter von der Wohnung wegbewegen, was zu absurden Notlösungen führte: Für einen 8km Lauf musste ich 30-40-mal um den eigenen Block rennen.
Mein Partner und ich konnten zwar noch ins Filmstudio, da wir dort nur zu zweit arbeiten, was aber wenig half, da alle Projekte entweder abgesagt oder eingefroren waren. Im Gegensatz zu Deutschland gab es hier für unzählige Angestellte auch keine Möglichkeit der Kurzarbeit mit Lohnfortzahlung, sondern unbezahlten Urlaub.

In dieser Zeit ging es für viele Menschen an die Substanz: Keine Arbeit, kein Geld und die Kinder 24/7 zu Hause. Während des ersten Lockdowns gingen die Zahlen in Bezug auf häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder leider extrem nach oben. Supermärkte, Apotheken und lebenswichtige Läden waren offen. Ansonsten alles dicht.

Alles in allem war der erste Lockdown extrem einschneidend: finanziell und psychisch. Aber für viele schuf es doch auch einen kreativen und geistigen Freiraum. Außerdem hatte es beim ersten Mal noch den Charme des Abenteuers und des Unbekannten. Eine Bevölkerung, die ständig mit Krieg konfrontiert ist (bereits drei seitdem ich hier lebe), kann so Einiges ab. Aber dieser zweite Lockdown entnervt die Menschen hier. Viele haben schon angekündigt, zivilen Ungehorsam zu leisten und sich trotz des Bußgeldes von 500.-NIS (ca. 125 Euro) den Verboten zu widersetzen. Überall in Tel Aviv sind seit dem Neujahr Roadblocks, die Autofahrer kontrollieren und sie nach dem Grund fragen, warum sie unterwegs sind. Wenn man keinen triftigen Grund hat, sind 500.-NIS Strafe fällig. Fast 2500 Leute in Israel wurden schon mit dem Bußgeld versehen.

Am letzten Freitag war das jüdische Neujahrsfest. Der Lockdown war schon in Kraft - maximale Distanz vom eigenen Zuhause 500 Meter. Dies war ja auch einer der Hauptgründe für den Lockdown: Das Neujahrfest läutet eine ganze Serie von Fest- und Feiertagen ein (Rosh HaShana, Yom Kippur, Sukkot).

Weil Israelis da viel mit Freunden und Familie zusammen sind und reisen, ist die Gefahr für die Verbreitung des Virus natürlich weitaus größer. Nur für Sport durfte man raus und weiter weg vom eigenen Zuhause. Da dieses Fest eine große Bedeutung hat und man immer mit Familie oder Freunden ein Abendessen macht, waren extrem viele Jogger unterwegs, bewaffnet mit Kochtöpfen in Rucksäcken und Blumen in den Händen. Sozusagen eine Sport-Guerilla, die sich in Camouflage zu den Familientreffen pirschte bzw. joggte.

Ein witziges Meme, das in diesem Zusammenhang die Runde machte (der Text sagt: Ich gehe nicht zum Feiern, ich mache nur Sport):

meme israel

Wie arbeiten die Menschen in Israel zurzeit? Gibt es das Modell Homeoffice?

Ja, die Menschen, die es können, arbeiten von zu Hause aus. Das ist oft eine extreme Belastung, da die Israelis im Schnitt mehr Kinder haben als Deutsche. Jeder, der mit einem Kind im Homeoffice arbeitet, kann sich vorstellen was los ist, wenn man drei Trolle zu bändigen hat. Ich denke, im Allgemeinen sind die Menschen hier extrem kreativ und flexibel im Umgang mit neuen Herausforderungen, daher ist die Akzeptanz okay bis gut.

Für viele, die es aber richtig hart trifft, ist das Homeoffice keine Option: Event Business, Restaurants, Hotels & Tourismus, Theater & Kultur. Alle diese Bereiche stehen vor einem existentiellen Problem und viele vor dem Aus. Einige hat es schon erwischt.

Vielen Dank für das Interview

Mehr zum Thema:

Wie Homeoffice die Arbeitswelt prägt

Empfehlungen