Exklusiv-Interview

"Die Mieter gingen bankrott"

In Israel sorgt der zweite Lockdown bei den Kulturschaffenden für Bestürzung. Wir sprachen mit dem Filmemacher Sascha Engel aus Tel Aviv über den täglichen Überlebenskampf.

Interview mit Sascha Engel

Der zweite Lockdown in Israel ist für alle Menschen, aber besonders natürlich für frei arbeitende Kulturschaffende ein erneuter Tiefschlag. Wir sprachen mit Sascha Engel, Choreograph, Tänzer und Filmemacher in Israel, über die weitreichenden Folgen dieser katastrophalen Entwicklung.

GENERATION Homeoffice: Du bist zurzeit in Israel. Was hat Dich dorthin verschlagen?

Sascha Engel: Ich lebe seit 2005 in Israel. Vorher habe ich 10 Jahre in Holland gelebt, wo ich Tanz und Choreographie in Rotterdam studiert habe und danach als freischaffender Choreograph und Bühnentänzer arbeitete. Während eines Projektes in Israel lernte ich meine Frau kennen und nach einem Jahr Beziehung auf Distanz hatten wir es satt. Dann brach ich meine Brücken in den Niederlanden ab und zog zu ihr nach Tel Aviv, wo ich weiterhin im Theater tätig bin, aber seit vielen Jahren auch als Filmemacher.

Was genau bedeutet der zweite Lockdown für Dich persönlich?

Unser Filmstudio „Kino Kitchen“ ist in einem großen Gebäude aus den 60ern, mit 75 Studios/Ateliers in dem sich nur creative businesses befinden: Filmemacher, Musik Studios, Architekten, Photographen, Maler und Special-FX für Filme.
Zehn Studios wurden bereits nach dem ersten Lockdown geräumt: Die Mieter gingen bankrott. Was jetzt kommt, könnte noch heftiger werden, da manche vor dem ersten Lockdown noch ein Polster hatten: Der Zweite trifft die meisten ohne jegliche Rücklagen. Unser Studio verliert mehrere Produktionen in den kommenden Wochen. Wir werden diesen Lockdown wohl überstehen, wenn er bis Mitte Oktober dauert. Sollte es länger gehen, könnte es wohl auch unser Ende einläuten.

Noch mal zurück zum ersten Lockdown: Dies klingt vielleicht verrückt, aber der hatte auch seine schönen Seiten: Keine Flugzeuge am Himmel, leere Straßen und plötzlich roch man in Tel Aviv die Natur wieder. Kojoten, Rehe und Wildscheine zogen in viele Städte ein.
Viele Menschen hier wurden auch ungeahnt kreativ, begannen endlich das Hobby, welches sie seit Jahren auf der Bucket List stehen hatten, renovierten die Wohnung, oder widmeten sich Kunstprojekten. Ich, zum Beispiel, sammelte Videos von Tanzkollegen und Künstlerfreunden aus aller Welt, die sich zu Hause beim Tanzen filmten und schnitt einen Clip daraus - mit Musik vom Berliner Ensemble Jazzanova (Sonar Kollektiv). Das Video hatte dann auch eine ziemliche Reichweite und bekam von einer israelischen Kulturstiftung einen Förderpreis.

 

 

Wie sehr leidet deine Arbeit unter den Auswirkungen von Covid-19? Wie steht es in Israel um die Kulturschaffenden?

Als Tänzer und Filmemacher stehe ich selbst in der Schusslinie, bzw. bekomme durch Kollegen mit, was im Kultursektor hier los ist. Mit Katastrophe ist es noch sehr wohlwollend umschrieben. Theater ist im wahrsten Sinne des Wortes tot. Es gibt zwar einige Aktionen, die trotz Corona Kreatives anbieten: Das Israel Festival, eines der größten und international anerkannten Theater- und Tanzfestivals in Jerusalem, zeigte alle Vorstellungen live im Internet mit Multi Cams und Live Schnitt (mein Studio war an der Produktion über Adolf Eichmann beteiligt).

Dies sind aber Tropfen auf den heißen Stein. Auch Film und Fernsehen ist stark eingeschränkt. Und alle Produktionen mit größerer Crew sind abgesagt oder eingefroren. Es gibt bereits Kinos und Theater die ganz geschlossen haben, da sie finanziell am Ende waren. Es geht soweit, dass selbst ein prominenter Schauspieler, der die Bekanntheit eines Til Schweigers hat, plötzlich im Supermarkt in der Gemüseabteilung jobben muss, um über die Runden zu kommen.

Wie geht es weiter mit dem Filmstudio?

Eine extrem gute Frage. Da wir gerade erst ein Museumsprojekt für das MIA in Minneapolis hatten, können wir uns im jetzigen Lockdown noch über Wasser halten. Einen dritten würden wir wahrscheinlich finanziell nicht überleben. Es ist schwierig, hier eine Vorhersage zu machen: Abgesehen von Corona steht Israel auch politisch am Abgrund. Netanyahu, der aufgrund seiner Anklagen und der landesweiten Proteste, in Panik agiert und dadurch das Chaos nur vergrößert, ist ein nicht zu berechnender Faktor. Er wird alles, aber auch alles tun, um an der Macht zu bleiben und nicht ins Gefängnis zu müssen. Wenn ihm dies nur gelingt, in dem er das Land voll gegen die Wand fährt, wird er keinen Augenblick zögern, dies auch zu tun. Das macht uns allen hier am meisten Angst. Obwohl sehr anders, ist es in dieser Hinsicht ein bisschen wie in Amerika.
Die Demonstrationen gehen weiter, die Menschen machen das Beste aus der Situation und hoffen auf bessere Zeiten. Israelis sind unglaublich zäh, kreativ und ihre Geschichte hat sie zu echten Überlebenskünstlern gemacht.
Im Moment herrscht im Kino Kitchen Film Studio das Prinzip Hoffnung: Irgendwie durch diesen Lockdown zu kommen und dann ein Licht am Ende des Tunnels zu finden, in Form von neuen Produktionen und Projekten.

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