Tagebuch, Teil 3

Kuchen, Tränen und Parfüm

Ein Leben im Homeoffice zwischen Geburtstag und Demo. Exklusiv berichtet der Filmemacher Sascha Engel über den täglichen Kampf aus dem Lockdown in Israel.

Tagebuch über den Lockdown in Israel, Teil 3

14.Oktober, mein Geburtstag. Hätte ich mir auch nie träumen lassen, mal einen Geburtstag in Ausgangsperre zu feiern. Aber der Tag fängt, dank meiner unglaublichen Frau Nina, großartig an: Kaum aus dem Bett geschält, erwartet mich im Wohnzimmer ein phänomenaler Kuchen, ein Brief, der mir die Tränen in die Augen treibt und ein Parfüm, was noch in meiner Sammlung fehlt: Tom Ford’s Noir Extreme.
Wäre ich nicht bei Theater & Film gelandet, dann wäre Parfümeur ganz oben auf meiner Berufswunschliste. Wenn schon keine Projekte und eingesperrt sein, dann wenigstens gut riechen. Aber mal im Ernst, was bei uns in Israel im Moment abgeht, lässt sich auch nicht mit den Kreationen eines Tom Ford übertünchen: Der Fisch stinkt vom Kopf her.
Letzte Woche hatten wir knapp 10.000 Neuansteckungen in Israel an einem einzigen Tag. Das entspräche ca. 80.000 Neuinfizierte in Deutschland. Ein Wahnsinn.

Sascha Engel im Gespräch mit Gil Naveh alias Galina Port de Bras, einer der Leiter von WERK, Tel Aviv’s berühmtester wöchentlicher Drag Show.

Warum so viele?

Eine gute Frage, die sehr vielschichtige Antworten hat. Eine Entwicklung bleibt weiter ein Dorn im Auge der Bürger: Während immer mehr bizarre Szenen von polizeilichen Übergriffen und Verhaftungen in den sozialen Netzwerken die Runde machen - wie z.B. das Video einer Frau, die alleine mit Maske am Strand sitzt und von zwei Beamten unter Tränen in Handschellen gezwungen wird, weil sie keine ID bei sich trägt, genießen andererseits die Orthodoxen und Ultraorthodoxen in Israel immer noch absolute Narrenfreiheit, wie ich aus eigener Beobachtung bestätigen kann.

Religiöse Juden dürfen mehr

Das Simchat Torat Fest (wörtlich: Freude über die Tora), welches den jährlichen Tora-Lesezyklus beendet und gleichzeitig erneuert, hat bei den religiösen Juden einen großen Stellenwert. Die Tora-Rollen werden durch die Gemeinde getragen und alle singen und tanzen und berühren die Rollen. Man kommt sich nahe. Unweit meines Hauses ist eine Synagoge. Bei meinem Abendspaziergang mit Hund Niko sehe ich ca. 30 orthodoxe Religiöse, die ihr Simchat Tora im Freien feiern. Ein Polizei-SUV hält neben den Feiernden. Über Megaphon werden diese mehrmals aufgefordert nach Hause zu gehen. Der Rabbi wendet sich nach kurzer Diskussion an der Fahrertür ab und kehrt zu den Feiernden zurück. Dann nochmals zwei Aufforderungen....nichts. Und dann verschwinden die Blaulichter der Polizei in der Nacht. Nichts. Absolut nichts ist passiert.
Keine Verwarnung, kein Bußgeld, keine Verhaftung. Da lässt sich den anderen Bürgern in Israel natürlich schwer erklären, warum ihre Geschäfte, Restaurants und Unternehmen geschlossen bleiben müssen, während dies von anderen Bevölkerungsgruppen einfach und ohne Konsequenzen ignoriert werden kann.

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Die Proteste gehen weiter und die Teilnehmerzahlen steigen. Letztes Wochenende gab es 1.400 unabhängige Demos in Israel mit einer Gesamtbeteiligung von 210.000 Menschen. Selbst in unserem Tel-Aviver-Aussenbezirk, Givataim, weitab vom kochenden Demo Zentrum in der Innenstadt, kommt es zu einer beachtlichen Versammlung. Hier ein paar Eindrücke, die ich am letzten Shabbat in Givataim einfangen konnte:

Weniger Kontrollen

Obwohl der Lockdown noch bis mindestens 18. Oktober anhält, merkt man inzwischen, dass die Menschen sich immer weniger an die Vorgaben halten. Der Verkehr nimmt jeden Tag zu, sodass die Polizei immer weniger Kontrollen an den Checkpoints unternimmt, da es inzwischen einfach zu viele Fahrzeuge sind, um alle zu kontrollieren. Essen darf ausgeliefert werden: Restaurants umgehen die Schließungen, in dem sie auf telefonische Bestellung hin das Essen auf einen Tisch vor das Restaurant “liefern”. Viele Läden haben nach außen hin zu, aber wenn man als Kunde kommt, und nicht von der Polizei oder dem Ordnungsamt, bekommt man heimlich Einlass oder sagt, was man will und bekommt es an die Ladentüre gebracht.

Alles wirkt im Moment ein bisschen wie die Geheimnistuerei im Film „Fight Club": First rule about fightclub - you don’t talk about fightclub.
Es gibt aber auch Momente, die gar nicht gehen: Eine Yoga Lehrerin gibt an eine kleine Gruppe von Leuten Privatstunden in ihrer Wohnung. Ein Nachbar verständigt die Polizei und zeigt sie an. Die Beamten stehen nach kurzer Zeit vor der Tür und es werden 5000.-NIS (ca. 1.250.- Euro) fällig für das Betreiben kommerzieller Tätigkeit im Lockdown. Das dort jetzt die Atmosphäre im Mietshaus vergiftet ist, braucht man wohl nicht extra zu erwähnen. Der zwischenmenschliche Schaden, der durch all dies entsteht, wird dem ökonomischen in nichts nachstehen.

Der kreative Betrug

Auch wenn ich den Engel im Nachnamen habe, bin ich keiner: Auch ich mache mich gelegentlich des kreativen Betruges schuldig. Im Rucksack habe ich immer ein paar Dosen mit vetärinerischem Tierfutter dabei, wenn ich zum Studio radle. Man darf ja zum Nahrungseinkaufen und wenn man spezielle Tiernahrung braucht, darf man auch zum Tierarzt.
Beim letzten Muay Thai Sparring mit meinem Trainingspartner im Park kam plötzlich die Polizei über den Hügel gerollt. Von einer Sekunde zu anderen waren die Handschuhe und Shinguards abmontiert und jeder trainierte an den Geräten für sich alleine, den anderen ignorierend - alleine darf man ja raus für Sport.
Eine durch und durch bizarre Situation.

Alles für die großen Player

Miri Regev, eine stark populistische israelische Politikerin, hat jetzt durchgedrückt, dass der Flughafen unverzüglich wieder geöffnet ist. Toll, alles dicht, man darf nicht raus, aber das Fliegen muss wieder erlaubt sein. Die Agenda ist klar: El Al, die israelische Fluggesellschaft, hat gedroht den Staat Israel zu verklagen, da sie vor der Pleite steht. To big to fail: Überall werden die großen Player gerettet, während die kleinen Geschäfte und Selbständigen vor die Hunde gehen. In Deutschland pumpt man Milliarden Steuergelder in die Lufthansa und in Israel werden Fernreisen wieder erlaubt, bevor man überhaupt mehr als einen Kilometer vom Haus wegdarf.

Gerade kam die Meldung: Ab dem 18.10. darf man wieder weiter als 1000 Meter vom Haus weg, sich Essen bei Restaurants abholen, wieder zur Arbeit - solange man da nicht die Anzahl von zehn Personen überschreitet und keinerlei Kundschaft empfängt. Also bleiben Geschäfte, Bars, Restaurants, Sportclubs und öffentliche Einrichtungen zu.

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Es herrscht großes Chaos

Wenigstens darf man dann wieder ans Meer und in die Natur, ohne Gefahr zu laufen, mit Bußgeld versehen oder verhaftet zu werden. Schulen bleiben zu, Kindergärten werden geöffnet. Was für ein Durcheinander. Man braucht schon einige Zeit, sich durch die Neuregelungen zu lesen, vom Verstehen und sich dann alle Details einprägen schon mal ganz abgesehen.

Es ist dieses Chaos und die Ungewissheit, was morgen kommt, was so am Nervenkostüm zerrt. Obwohl Nina und ich normalerweise alles gleich zwischen uns verteilen, Geld verdienen & die Arbeit im Haus, ist sie im Moment diejenige, die uns über Wasser hält. Als Psychotherapeutin darf sie in Israel auch im Lockdown arbeiten und die Patienten haben die Therapie natürlich noch nötiger als in normalen Zeiten. Diese Angst um das Filmstudio, nicht finanziell zu unserem Leben beitragen zu können und die Ungewissheit, wann und wie das alles weitergeht, frisst an der Seele. Meditation, körperliches Training und mir die Sachen von der Seele schreiben, sind die Dinge, die mich davor bewahren, in ein Loch zu fallen.
Mit coronabedingter Verspätung habe ich endlich meinen neuen Pass von der deutschen Botschaft in Empfang nehmen können. Endlich kann ich wieder fliegen und meine Familie in Deutschland besuchen. Ein Balsam für die Seele. Aber so schnell wird da wieder nichts draus: Israel war bereits auf der roten Liste in Europa, was bedeutet, dass ich bei Einreise zwei Wochen in Quarantäne muss. Jetzt explodieren auch die Zahlen in Europa, was bedeutet, ich muss nun auch nach der Rückkehr zwei Wochen in Israel in Quarantäne. Vier Wochen eingesperrt kann ich mir im Moment beim besten Willen nicht leisten. Also weiter meditieren und boxen, um die Balance zu halten und am Prinzip Hoffnung festhalten, dass ich meinen Bruder und meine Schwester doch noch irgendwie sehen kann in 2020.

 

Sascha Engel lebt seit 2005 in Tel Aviv in Israel. Der Tänzer und Choreograph arbeitet dort am Theater, aber seit vielen Jahren auch als Filmemacher. In seinem Filmstudio „Kino Kitchen“ produziert er Video-Clips, Dokumentarfilme und alles rund um Multi-Media für Theater und Museen.

Mehr zum Thema:

Tagebuch, Teil 2: Eine Nacht mit viel Gewalt

Tagebuch, Teil 1: "Ein ganzes Land als Geisel"

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