Heute morgen aufgewacht mit gefühlter Endzeit-Katerstimmung: Die Knesset (das israelische Parlament) hat beschlossen, die Demonstrationsrechte wegen des Lockdowns quasi einzufrieren. Auch eine Verlängerung des Lockdowns über den 11.10.2020 hinaus scheint sicher. Man spricht nun schon davon, dass man gewisse Maßnahmen noch bis zu einem Jahr aufrechterhält.
Ein ganzes Land als Geisel eines Premierministers, der alles dafür tun wird, um an der Macht zu bleiben, um nicht ins Gefängnis zu müssen.
Ein schlechter Witz
Ich arbeite im Moment alleine im Filmstudio, darf aber trotzdem nicht dorthin, weil es offiziell ein Risiko ist, während in Bnei Brak (einem Viertel der Ultrareligiösen) gerade Zelte für das Sukkot Fest (Laubhüttenfest) mit bis zu 1500 Personen aufgebaut werden. Ein Witz, wenn auch ein schlechter. Und ich kann noch nicht einmal nach Deutschland fliehen: Die Bürger in Israel haben nun auch Ausreiseverbot.
Jetzt erst einmal einen Kaffee im Homeoffice, um klar zu kommen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal meinen Morgenkaffee aus dem originalen Alcatraz-Becher als wirklicher Gefangener trinken werde.
Im Moment fühlt sich alles an wie ein schlechtes B-Movie-Script: Die Präsidenten-Debatte in den USA, QAnon, Kalifornien brennt, die Politik Israels, alles zu absurd um wahr zu sein. (Warum Israel an Corona verzweifelt).
Der Hund als Rettung
Wenigstens ist es noch warm & sommerlich, das macht es ein wenig erträglicher. Mein Hund ist quasi mein Pass nach draußen: Man darf noch Gassi gehen in Israel, wenn auch nur bis zu 1000 Meter ums Haus. Wieder zurück, sitze ich im Homeoffice an der Übersetzung des Interviews mit Iftach Ophir ("Lockdown ist absoluter Bullshit").
Zum Studio komme ich noch auf kreative Art und Weise: Ich darf zwar nicht zur Arbeit, aber Joggen ist ok. Also rein in die Sportklamotten und los geht’s. Ach was für ein Zufall, bin ich doch glatt am Studio vorbeigelaufen. Jeden Tag zum Studio rennen steigert wenigstens die Ausdauer. Man muss ja auch mal das Gute im Schlechten sehen.
Kampf im Park
Danach geht es ab in den Park: Zwar ist die Muay Thai Schule, in der ich trainiere, auch geschlossen, aber mein Sparringspartner und ich gehen das Risiko ein. Zu zweit darf man eigentlich nur trainieren, wenn man zusammen wohnt. Jetzt wohnt Iftah Kary also bei mir, für den Fall, dass die Polizei beim Training vorbeischaut. Iftah ist Jazz-Pianist und hat bis auf wenige Zoom-Studenten auch keinerlei Einkommen im Moment.
So, jetzt ist wenigsten der Aggressionspegel ein wenig runtergefahren. Wieder zurück im Homeoffice, Laptop aufgeklappt, Emails beantwortet, an ein paar zukünftigen Projekten geschrieben, ohne zu wissen, ob die jemals realisiert werden, wenn diese Lage weiter anhält.
Gefühl von Taubheit
Die Frustration und innere Leere, die die gestrigen politischen Entscheidungen in Israel mit sich bringen, machen es einem nicht leicht, sich kreativ zu betätigen. Ein Gefühl von Taubheit. Man spürt es auf den Straßen, in den sozialen Medien, bei Freunden und Familie: Während des ersten Lockdowns waren wir alle mit an Bord, auch wenn es hart war, haben es alle verstanden: Überleben ist Programm in Israel. Der erneute Shutdown hingegen stößt auf wenig Verständnis: Die Mehrheit der säkularen Israelis fühlen sich betrogen und benutzt, während die Religiösen weiterhin ihre Narrenfreiheit genießen.
Es geht sogar soweit, dass bei den letzten Demos israelische Soldaten mit Polizeiwesten eingedeckt wurden und bei den Gegenmaßnahmen der Polizei unterstützend, mit M16 im Anschlag, zur Seite standen. Klar gegen hiesige Gesetze, aber darum schert sich die momentane Regierung schon lange nicht mehr.
Ich brauche einen Schlachtplan
Gideon Levi, ein Journalist der "HaAretz" Tageszeitung, kommentierte die Situation sehr treffend: Jetzt bekommen die jüdischen Israelis mal einen Geschmack vom täglichen Leben der Palästinenser - Ausgangssperre, keinerlei Sicherheiten was man darf und was nicht, Checkpoints mit Soldaten, Bußgelder und Verhaftungen.
Wie bleibe ich positiv? Kreativ? Nicht verbittert und zynisch?
Nachdem der Shellshock der gestrigen Beschlüsse verdaut ist, muss ich mir diesbezüglich einen Schlachtplan entwerfen. Hinschmeißen und den Kopf in den Sand ist definitiv das vorherrschende Gefühl. Aber so schnell will ich nicht aufgeben. Vielleicht verlieren wir diesen Kampf, aber über alle Runden gehend, nach Punkten. K.O. bekommen sie uns nicht!
To be continued....
Sascha Engel lebt seit 2005 in Tel Aviv in Israel. Der Tänzer und Choreograph arbeitet dort am Theater, aber seit vielen Jahren auch als Filmemacher. In seinem Filmstudio „Kino Kitchen“ produziert er Video-Clips, Dokumentarfilme und alles rund um Multi-Media für Theater und Museen.