Tagebuch, Teil 2

Eine Nacht mit viel Gewalt

Es brodelt in Israel im Lockdown. Live vor Ort schildert der Filmemacher Sascha Engel im zweiten Teil seines Tagebuchs seine Eindrücke.

Tagebuch über den Lockdown in Israel, Teil 2

Die Sonne scheint, es ist immer noch warm: 27 Grad in Tel Aviv. Aufgrund des Lockdowns und der Arbeit der Menschen im Homeoffice (wenn es möglich ist) ist der Verkehr minimal und die Luft frisch und klar.
Man kann die Natur aufatmen hören: Die Vögel singen, Grillen zirpen und man hört sogar den Wind, der vor meinem Fenster durch die riesige Palme streicht.

Doch die Ruhe trügt, es brodelt in Israel. Nachdem Netanyahu die Einschränkungen des Demonstrationsrechtes in der Knesset (israelisches Parlament) durchsetzte, die den Bürgern nur noch erlauben, im Umkreis von 1000 Metern um das eigene Haus zu demonstrieren, bewiesen die Israelis wieder einmal ihr unglaubliches Talent zur Improvisation und Gewitztheit: Die Bevölkerung organisierte sich nun landesweit in unzähligen Kleindemonstrationen mit knapp 130.000 Menschen.

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Leider endete diese Nacht in viel Gewalt: Einerseits griff die Polizei mit unnötiger Härte durch, die sich in direkter körperlicher Gewalt (vor allem durch die Yasam Einheit, eine israelische Spezialeinheit der Polizei), Verhaftungen, Geldstrafen und berittener Polizei manifestierten. Aber leider auch Gewalt durch viele rechte Schläger, die Demonstranten angriffen, bespuckten und mit Eiern bewarfen.

Sascha Engel im Gespräch mit Slavik Greensh, erster Kameraassistent und Leiter des Kameradepartments in großen Film- und Fernsehroduktionen in Israel

Der Druck steigt

Doch die Menschen geben nicht auf. Die Wut schwillt weiter an. Und der Druck steigt spürbar ins unerträgliche, ähnlich einem Schnellkochtopf, dem man das Ventil zudreht. Der Topf wird explodieren, die Frage ist nur noch: Wann? Heute morgen sehe ich auf den FB Profilen der meisten meiner israelischen Freunde einen Schriftzug unter ihrem Profilbild: “Lech!”, was soviel bedeutet wie “Hau ab!”, “Verschwinde” - gerichtet an den Regierungschef.

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Plattensammlung lebt auf

Aber genug von all dieser politischen Endzeitstimmung. Trotz all der Probleme, die uns hier im Moment um die Ohren fliegen - keine Arbeit, eingesperrt und einen Regierungschef, der Amok läuft - gab es auch viel Gutes im Corona-Jahr. Ich habe meine Technics SL-1210 Plattenspieler und den Mischer aus ihrem Dasein als Staubfänger befreit und mal wieder meiner gesamten Vinyl Sammlung den Auslauf gewährt, der mir im Moment verwehrt bleibt. Bücher, die ich schon lange lesen wollte und immer wieder im Regal verschwanden, weil man abends zu müde war, sind wieder auf dem Tisch. Auch unsere drei Tiere, zwei Katzen und ein Hund, sind sehr erfreut über den Lockdown und das Leben im Homeoffice: Da Nina und ich keine Kinder haben, bekommen sie jetzt die geballte Aufmerksamkeit, Spiel- und Schmusezeit.

Der arme Hund

Mein Hund ist zwar einerseits erfreut, dass er jetzt das Alibi nach draußen ist, hat aber mit seinen 15 Jahren, nach dem dritten langen Spaziergang, die Schnauze voll.
Aber machen wir uns nichts vor. Es ist krass: Im ersten Lockdown war ich immer guter Dinge und optimistisch. Aber jetzt, im Sequel, merke ich wie mir der Lagerkoller über die Schulter grinst. Ich habe im Laufe der beiden Lockdowns meine persönlichen Strategien und Methoden entwickelt, mich körperlich, geistig und seelisch gesund & fit zu halten.

So klappt es noch

Hier ist meine Liste von Dingen, die mir persönlich in der Zeit des Lockdowns und der Arbeit im Homeoffice immens helfen - in keiner hierarchischen Reihenfolge. Natürlich ist das kein One-Fits-All Ratgeber. Jeder Mensch tickt anders. Für mich allerdings sind es Dinge, die inzwischen zu einem festen Bestandteil wurden:

  • Am Anfang des ersten Lockdowns habe ich aus Neugier mit den Atemübungen von Wim Hof begonnen. In Kombination mit meiner morgendlichen Mediation wirkten diese Übungen wahre Wunder auf die Psyche. Und auch auf den Körper: Während ich am Anfang - bei leerer Lunge - 90 Sekunden ohne Sauerstoff auskam, sind es inzwischen 3,5 Minuten. Man kann sich auch die freie App von Wim Hof auf das Smartphone laden. Auf diese Weise kann man die Übungen timen und Trainingsverläufe dokumentieren. Seine Methode ist inzwischen auch wissenschaftlich belegt und kein esoterischer Hüttenzauber. Also, ran ans Atmen. Probieren geht über studieren.
  • Yoga, Pilates, Tanzklassen und seit kurzem Muay Thai: Als Tänzer war körperliches Training immer Bestandteil meines Tagesablaufs. Jetzt, in den Corona-Zeiten, ist das Training wichtiger denn je: Es hält nicht nur Körper fit, sondern auch den Verstand und die Psyche, welche im Lockdown am meisten in Mitleidenschaft gezogen werden.
  • To-Do-Lists: Als Freiberufler habe ich die schon vor Corona geführt, erweisen sich aber im Lockdown als echte Lebensretter: Bevor ich ins Bett gehe, schreibe ich mir eine To-Do-List für den nächsten Tag, was Erledigungen, Arbeit und Training betrifft. Auch wenn es sehr preußisch anmutet, es hilft, eine innere Struktur beizubehalten.
  • Jeden Tag eine Sache machen, die man schon lange machen wollte, aber aufgrund des Alltags- und Arbeitsstresses vor Corona immer vor sich hergeschoben hat: Das Telefonat mit einem alten Freund, das Buch, welches man schon lange fertig lesen wollte, die lang geplante Renovierungsarbeit in der Wohnung, das neue Kochrezept, welches man schon so lange mal ausprobieren wollte. Es gibt so viel: Ganz ehrlich - obwohl ich die momentane Situation hasse und mir die Tatsache, keine Projekte zu haben, zutiefst missfällt, habe ich mich noch keinen einzigen Tag im Lockdown gelangweilt. Es kamen zwar ab und zu die Depression und ihre Schwester, die Wut, zu Besuch, aber dank der oben genannten Punkte blieb keine länger als auf einen kurzen Kaffee. Hoffentlich bleibt das auch so....

Gerade die Pressemitteilung gelesen, dass angeblich am 14.Oktober der Lockdown aufgehoben wird - das wäre das beste Geburtstagsgeschenk seit langem.
So, und jetzt ab in den Park zum Sparring, hoffentlich werden wir nicht kontrolliert. Seit zwei Tagen wird härter durchgegriffen. Mehrere Bekannte mussten schon 500.-NIS (ca.125.- Euro) löhnen.

To be continued...

Sascha Engel lebt seit 2005 in Tel Aviv in Israel. Der Tänzer und Choreograph arbeitet dort am Theater, aber seit vielen Jahren auch als Filmemacher. In seinem Filmstudio „Kino Kitchen“ produziert er Video-Clips, Dokumentarfilme und alles rund um Multi-Media für Theater und Museen.

Mehr zum Thema:

"Ein ganzes Land als Geisel (Tagebuch, Teil1)"

Warum Israel an Corona verzweifelt

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