Tagebuch, Teil 4

"Ich fühle mich leer, desillusioniert, betrogen."

Langsam wird der Lockdown in Israel etwas gelockert. Für Filmemacher Sascha Engel bleibt viel Frust und jetzt hat sich auch noch ein Freund infiziert.

Israel im Lockdown, Tagebuch, Teil 4

Der Lockdown in Israel ist seit dem 18.10. teilweise aufgehoben und ein wunderbarer warmer Herbst tut sein übriges - Tagestemperaturen von bis zu 28 Grad und Sonnenschein.
Man kann wieder zur Arbeit, wenn dort nicht mehr als zehn Leute in einem geschlossenen Raum arbeiten. Man kann auch wieder in Restaurants Essen abholen. Der Flughafen hat auch wieder geöffnet, was zu einem hohen Anstieg von Flugreisen führte. Viele Freunde und Kollegen haben sofort die Gelegenheit genutzt einen Kurzurlaub anzutreten, eine Atempause, eben mal raus aus dem Schnellkochtopf, der politisch immer noch extrem unter Druck steht.

Sascha Engel im Gespräch mit Elad Meirovitz. Meirovitz (37) arbeitet in dem Feinkostladen “Delicatessen” im Zentrum von Tel Aviv.

Was hätte Mose dazu gesagt. Er hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, seine Leute zurück ins Heilige Land zu führen und jetzt flüchten die Israeliten, wenn sie können und noch über ein ausreichendes finanzielles Polster verfügen.
Endlich habe ich auch meinen neuen Reisepass aus Deutschland erhalten. Obwohl ich mich schon seit Monaten um einen neuen bemüht habe, dauerte alles erheblich länger dank Covid-19. Hoffentlich findet sich bald mal die Möglichkeit, Deutschland zu besuchen und ein paar Tage mit Freunden und Familie verbringen zu können, die ich nun schon so lange nicht mehr gesehen habe.

Freund schwer erkrankt

Selbst wenn man nicht zu der Fraktion der Aluhut-Träger, die im extremsten Falle Corona gänzlich leugnen, gehört, hatte jeder von uns schon mal den Gedanken im Kopf: Vielleicht alles gar nicht so schlimm und die Medien, wie so oft, blasen es künstlich auf. Denn nichts läuft so gut wie schlechte Nachrichten. Angst verkauft sich wie warme Semmeln.
Aber nachdem ich vor kurzem ein Gespräch mit Peleg Levi, einem Freund und Kollegen hatte, ist mein Respekt gegenüber dieser Krankheit ungemein gewachsen.
Peleg (31) ist Filmregisseur und Colorist. Er betreibt intensiv Sport (trainiert mindestens fünf Mal die Woche), Vegetarier (super gesunde Ernährung und kein Junk-Food), null Vorerkrankungen. Ja, er hatte in seinem Leben noch nicht einmal richtiges Fieber - bis Corona kam.

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Ernstlich krank war er zwei Wochen: Fieber, extreme Migräne (die ihn fast völlig bewegungsunfähig machte), Schmerzen in Gliedern und Muskeln am ganzen Körper, Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn.
Der Müll stapelte sich in seiner Wohnung, da er nicht mal die Kraft hatte, diesen raus zu bringen. „In dem Fall war es gut, dass ich nichts riechen konnte. Ich hatte ja schon die Fliegen im Haus. Grauenhaft.” Da seine Eltern und Freunde mit ihm vor der Erkrankung in Kontakt waren, mussten sie ebenfalls in Quarantäne, was zur Folge hatte, dass jegliche Hilfe für ihn ausfiel.
An Lebensmittel kam er lediglich über Online-Bestellungen und Home-Service.
Nachdem die ersten zwei Horror-Wochen durchgestanden waren, ging der Leidensweg aber weiter: Ganze drei Wochen nach dem Abklingen der Hauptsymptome litt Peleg an extrem schneller Ermüdung & Schlappheit: “Ich habe im Moment vielleicht 13% meiner früheren Stärke und Fitness. Ist schon ziemlich beängstigend.”
Inzwischen ist er wieder mehr oder weniger auf dem Damm, abgesehen von wenigen Tagen, an denen ihn die Erschöpfung einholt.
Ja, Covid-19 ist nicht die Cholera oder der Schwarze Tod, aber wer glaubt, diese Krankheit ist eine “gepimpte” Erkältung, hat den Schuss echt noch nicht gehört.

Nicht alles schlecht in Israel

In diesen Tagen wird man unzählige Israelis finden, mehr noch als vor Corona, die kein Vertrauen mehr in ihre Regierung und deren Corona-Politik haben. Für viele Israelis steht Angela Merkel hoch im Kurs: Sie steht für unaufgeregtes, sachliches Regieren - ohne Bestechungen und narzisstischen Egoismus. Viele Israelis, die aufgrund ihrer Familie einen europäischen oder amerikanischen Zweitpass haben, laufen schon seit Jahren aus dem Land weg. Alleine in meinem Bekanntenkreis habe sich in den letzten Jahren mindestens zehn auf den Weg nach Europa gemacht.

Hier muss ich trotz aller Kritik, die ich am israelischen System habe, mal eine Lanze brechen: Aus Deutschland höre ich oft von die katastrophalen Lage der Künstler, die Selbstständige sind, aber keinerlei Betriebskosten haben - also die klassische Ich-AG. Schauspieler, Schriftsteller, Regisseure - alles Soloselbständige, die keinerlei laufende Kosten haben und daher vom Staat nicht unterstützt werden. In Israel bekommt diese Gruppe sehr wohl Unterstützung: Die laufenden Betriebskosten sind hierfür irrelevant. Alles worauf es ankommt: Man muss lediglich 25%, bzw. 40% weniger verdient haben als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Die Beträge reichen oftmals auch nicht aus, aber zumindest bekommt man etwas.

Zaghafter Aufwärtstrend

Wenigsten läuft nach dem Lockdown das Filmgeschäft in Israel wieder ein wenig an: Kino Kitchen, unser Studio, ist momentan in Verhandlungen für Produktionen in naher Zukunft. Alles aber sehr zaghaft und vorsichtig. Keiner will sich mit Verträgen zu früh aus dem Fenster lehnen und im Falle eines erneuten Lockdowns auf den Kosten sitzen bleiben. Ein bisschen so wie beim frisch gefrorenen Teich im Winter: Man will die Kufen auf dem Eis spüren, aber auch nicht einbrechen, weil man nicht warten konnte bis das Eis dick genug war.

Die Choreographen Niv Sheinfeld & Oren Laor, für die ich als Tänzer arbeite, haben die Hoffnung aufgegeben, dass die Theater vor dem Frühjahr 2021 öffnen werden. Darum haben sie beschlossen, in den kommenden Wochen öffentliche Proben mit Vorstellungsauszügen auf öffentlichen Plätzen in Tel Aviv abzuhalten. Endlich wieder auftreten, wenn auch als Straßenkünstler - back to the roots. Die Vorstellung passt auch extrem gut zu dieser wahnwitzigen Periode. Der Titel ist Programm: Ship of Fools (Das Narrenschiff).

 

 

Weitere Proteste

Es ist gut, dass sich die Kunstszene in Israel nicht geschlagen gibt, auch wenn sie ähnlich sträflich vernachlässigt wird wie in Deutschland. Aber trotzdem ist es nicht das Gleiche.
Im ersten Lockdown war es noch ein Gefühl von Abenteuer: Alles war neu und hat mit dem Alltag gebrochen. Kein Verkehr, keine Flugzeuge, saubere Luft - das Gefühl, eine Ahnung davon zu bekommen, wie die Städte der Zukunft aussehen könnten, wenn wir die Umweltzerstörung endlich alle ernst nehmen würden. Es gab für viele so ein Gefühl, dass diese Pandemie ein Weckruf sein könnte und sich die Werte der Menschheit neu ausrichten.
Jetzt, im zweiten Lockdown war schon alles anders: Nichts ist mehr neu daran. Auch das die Gruppen, für die er eigentlich gedacht war, sich nicht daran halten, macht es nicht besser.
Die Utopie wurde inzwischen zur Dystopie: Alle wollen krampfhaft zurück zum alten Modus Operandi, nach dem Motto - die Pandemie ist schon schlimm genug, jetzt nicht noch mehr Neues.
Großkonzerne und sogenannte Systemrelevante werden gerettet, auf kleine Unternehmen wird wenig bis gar nicht geachtet. Amazon und Co verzeichnen Gewinnzuwächse biblischen Ausmaßes, obwohl sie ihre Arbeiter in der Pandemie oft behandelt haben wie in den Zeiten des Manchester Kapitalismus.
Ich fühle mich leer, desillusioniert, betrogen von meiner Regierung und ohne ein Gefühl zu wissen, wann dies alles endet. Selbst wenn man einen Marathon läuft, weiß man ja wenigstens, wann es vorbei ist. Man stelle sich mal die psychologischen Auswirkungen vor: Ein Sportler beginnt zu laufen und weiß an keinem Punkt im Rennen, wann es denn vorbei ist.
Diese Ungewissheit frisst Seele. Aber trotz alledem gehen die landesweiten Proteste in Israel unvermindert weiter. Seit der Lockdown aufgehoben wurde auch wieder in Balfour, vor Netanyahu’s Haus in Jerusalem.

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Meine Frau scheint als Therapeutin in Israel eine krisensichere Berufung zu haben: Die Anzahl der Anfragen, noch einen Platz bei ihr zu bekommen, werden mehr in diesen Zeiten. Aber gerade Kunst und Kultur, die Nahrung für die Seele, sind ebenso essentiell. Aber irgendwie scheint das bei den Entscheidungsträgern nicht wirklich anzukommen. Obwohl das Zitat nachweislich nicht von Churchill stammt, sondern ihm untergejubelt wird, trifft es dennoch den Nagel auf den Kopf: Als er (Churchill) den Vorschlag erhielt, doch den Etat für den Kunstsektor einzudampfen, um mehr Geld für das Militär zu haben, soll er erwidert haben: “So what are we fighting for then?” (Wofür kämpfen wir dann noch?).
Eine Fake News, die aber eine essentielle Wahrheit enthält. Paradox. Genauso wie unser Leben im Moment.

Sascha Engel lebt seit 2005 in Tel Aviv in Israel. Der Tänzer und Choreograph arbeitet dort am Theater, aber seit vielen Jahren auch als Filmemacher. In seinem Filmstudio „Kino Kitchen“ produziert er Video-Clips, Dokumentarfilme und alles rund um Multi-Media für Theater und Museen.

Mehr zum Thema:

Kuchen, Tränen und Parfüm (Tagebuch, Teil 3)

Eine Nacht mit viel Gewalt (Tagebuch, Teil 2)

"Ein ganzes Land als Geisel" (Tagebuch, Teil 1)

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